melchiorblum.ch

Über Bücherbinden

Ein Essay für das Forschungsseminar “Theorie und Praxis des Essays” an der Universität Basel, geleitet durch Dr. Caspar Battegay, in dem ich philosophisch über mein neustes Hobby – das Bücherbinden – reflektiere. 

Den Buchblock spanne ich sorgfältig in die hölzerne Buchbindepresse, so dass die mit gewachstem Leinenfaden handvernähten Lagen nicht verrücken. Langsam drehe ich die faustgrossen Griffe im Uhrzeigersinn und spanne den Block ein. Genug Druck, damit der Klebstoff nicht wieder auf die Seiten sickert, doch nicht zu viel, um zu verhindern, dass sich der Block verformt. Mit PVA trage ich die erste Leimschicht auf den Buchrücken. Während diese antrocknet, mache ich mir einen Tee. Nach einer guten halben Stunde trage ich die zweite Schicht auf und befestige anschliessend das Kapitalband an Kopf und Fuss des Rückens—mittlerweile blosse Routine. Es ist der nächste Schritt, der über Scheitern und Gelingen entscheidet. Ich bestreiche die Vorsätze, die den Buchblock nur an einem schmalen Streifen umfassen, mit einer hauchdünnen Schicht Leim. Zu viel und das Papier reisst beim Andrücken mit dem Falzbein. Langsam befestige ich den ersten Vorsatz am Vorderdeckel und wiederhole das Ritual am Ende des Buches. Dieses Mal gelingt alles und mit Genugtuung lege ich das fertige Buch in meine auf Ricardo erworbene Buchpresse aus Gusseisen.

Als ich vor ein paar Monaten durch Zufälle mit dem Buchbinden begonnen habe, erahnte ich die neuen Perspektiven noch nicht, die es mir auf meine Umgebung, ihre Materialität und meine Rolle darin eröffnen würde. Als moderner Mensch verbringe ich einen grossen Teil meiner Zeit, beruflich wie privat, vor einem Bildschirm. Unglaublich stolz habe ich beobachtet, wie ich meine Screen-Time, die mir mein iPhone jeden Sonntag unheilvoll mitteilt, auf knappe drei Stunden am Tag verringern konnte. Natürlich neben den vier bis fünf Stunden, die ich zusätzlich vor meinem Laptop verbringe. Doch trotz der Einführung des ersten iPhones im Jahr 2007 – eine richtungsweisende Erfindung für die Allgegenwärtigkeit moderner Technologie – bleiben für Viele analoge Alternativen die bevorzugte Wahl. Der Markt für edle Sammlerausgaben der klassischen Literatur ist gross, die Aktie von Moleskine ist auf einem Allzeithoch und auch als Lehrperson beobachte ich viele Lernende, die ihre Notizen handschriftlich schreiben. Dass wir als Gesellschaft endgültig Papier mit Pixel ersetzt haben, ist deshalb eine überspitzte Aussage. Doch wie bewusst erleben wir die Gegenstände, die uns umgeben?

Nach gut 18 Stunden nehme ich mein Buch aus der Presse und sogleich verwandelt sich mein anfänglicher Enthusiasmus in Frustration. Die Kanten des Einbands wölben sich an Kopf und Fuss gegen aussen. Nach einer kurzen Google-Suche und ein paar YouTube-Videos finde ich den Hauptverdächtigen: die Faserrichtung des Kartons. Wenn Papier oder Karton industriell hergestellt werden, verlaufen die Holzfasern entlang einer dominanten Richtung. Wenn das Papier feucht wird, wie zum Beispiel durch Klebstoff, dann expandiert es quer zur Faserrichtung. Ein YouTuber illustriert das Phänomen mithilfe einer Sushi-Matte, die gerollt werden kann, jedoch keine Flexibilität in der Vertikalen hat. Beim Buchbinden werden die Lagen, ein Stapel an zusammengefalteten Papieren, am Buchrücken miteinander vernäht und verklebt. Wenn das Papier nun von Kopf bis Fuss expandieren will, wird die Ausdehnung durch den Buchrücken gestoppt, sodass die Kräfte auf das Papier wirken und es sich verformt – so auch bei meinem Einband. Ist jedoch die Faserrichtung entlang des Buchrückens ausgerichtet, kann sich das Papier entlang des Vorderschnitts, der äusseren Kante, leicht nach aussen dehnen, ohne dass die Struktur des Buches beeinflusst wird. Ich gerate in Versuchung, das misslungene Buch direkt in den Hausmüll zu werfen, doch ich kann gerade noch meine Emotionen kontrollieren. Frustriert, und deshalb nur noch wenig sorgfältig, trenne ich den Buchblock vom Einband.

Ein Thema, das in der Geschichte der westlichen Philosophie immer wieder auftaucht, ist die Beziehung des menschlichen Subjekts zur externen, objektiven Welt – die nicht selten mit einer Prise Skepsis betrachtet wurde: Descartes zweifelte bekannterweise die Zuverlässigkeit seiner Sinnesorgane an und landete deshalb bei seinem nicht weiter anzweifelbaren cogito ergo sum. Kant, etwas gnädiger unseren Sinnesorganen gegenüber, räsonierte, dass wir durch die Gegenstände, die wir wahrnehmen, zwar auf unsere Kategorien der Wahrnehmung schliessen können, niemals jedoch auf das Ding an sich. Und Hume beobachtete die Bewegung von Billardkugeln und induzierte, dass lediglich eine zeitliche und räumliche Abfolge zwischen Aufprall und Bewegung erkennbar sei, aber nicht etwa eine Kausalität. Auch wenn alle drei Ansätze anderen Denkschulen angehören, haben sie gemeinsam, dass das Subjekt ein isolierter Betrachter ist, der nicht im alltäglichen Treiben verwurzelt ist. Oft nimmt uns jedoch eine Aktivität vollends ein und viel wahrscheinlicher ist, dass wir gerade Billard spielen, statt dass wir darüber philosophieren. Laut Martin Heidegger begegnet unser Dasein Gegenständen deshalb nicht als neutrale Objekte der Spekulation, sondern diese werden oft als praktische Werkzeuge, die zuhanden sind, in unsere Tätigkeiten miteingebunden und werden somit zu einer Erweiterung von uns. Wenn ich mich darauf konzentriere, den PVC-Leim sorgfältig auf den Vorsatz zu kleben, hinterfrage ich nicht die Existenz des Leims, des Kartons oder gar meine eigene. Jemand, der in eine Aktivität involviert ist, sieht sich nicht als Subjekt in einer Welt gegenüber von Objekten; wir stehen in einer praktischen Beziehung unserer Umgebung gegenüber. Und da wir meist etwas tun – gerade in der modernen Welt, in der Langeweile oft mit noch mehr Screen Time gefüllt wird – folgt, dass die Kategorien Subjekt und Objekt nicht unsere grundlegende Weise der Begegnung mit der Welt darstellen.

Sowohl analoge als auch digitale Aktivitäten haben also gemeinsam, dass wir von ihnen eingenommen werden und mit der Umgebung verschmelzen. Worin sich meiner Meinung nach Betätigungen jedoch unterscheiden können, ist die Qualität des existentiellen Zweifels und möglichen Erkenntnissen, wenn die Immersion mal unterbrochen wird. Heidegger betont, dass wir trotz unserer Einbettung in die Welt in eine analytischere Subjekt-Objekt Betrachtung übergehen können, wenn Objekte aus ihrem implizierten Kontext gerissen werden und so nicht mehr zuhanden, praktisch zur Hand, aber lediglich vorhanden, existierend, sind. So auch bei mir: nach dem missglückten Versuch klingt der Enthusiasmus ab. Der mit Klebresten übersäte Einband beäuge ich distanziert und sehe darin nur noch ein triviales Gebastel. Die Buchpresse – ein eisernes Monstrum, das den wertvollen Platz in meiner Stadtwohnung füllt. In diesem Unterbruch werde ich mir meiner Geworfenheit bewusst, ein weiterer Begriff Heideggers, der den Zustand beschreibt, in dem sich ein Dasein aufgrund historischer Kräfte aber auch vergangenen Handlungen stets befindet, hineingeworfen wird, und der wiederum die verfügbaren Handlungsmöglichkeiten bestimmt.

Je nach Aktivität kann der Bruch der Immersion schwächer oder stärker und somit produktiver sein. Denn sollte ich mich beim stundenlangen Scrollen auf TikTok erwischen, lege ich mein Smartphone zur Seite und die Spuren sind verwischt. Der Vorfall ist nie passiert. Konfrontiert mit all dem Chaos an Werkzeugen und Materialien, die ich mir teils aufwändig und teuer beschaffen musste, und die nun leicht befremdend meinen Schreibtisch erdrücken, fällt mir ein Alibi beim Buchbinden jedoch zunehmend schwer. Ich muss mich mit den Entscheidungen auseinandersetzen, die mich hierhin gebracht haben: Den Traum, eines Tages zu promovieren, habe ich immer noch. Oder mehr zu schreiben. Oder mein Russisch zu verbessern. Das gerade hat mich kein bisschen näher an mein Ziel gebracht. Ich verschwende meine Zeit. Es war nicht einmal entspannend. Nicht ein bisschen. Ich kanns mir deshalb auch nicht als Work-Life Balance schönreden. Das war einfach nur Mist. Was mach ich denn mit all dem Material? Das muss ich wegräumen. Das gehört dahin, das dort, ins Reduit, sodass es keiner sieht. Schnell fort. Jetzt die Tür noch zu und gut. Okay. Mein Schreibtisch ist wieder ordentlich. Beruhigen. Ich spüre die Anspannung noch immer etwas im Körper. Durchatmen. Was regt mich überhaupt so auf? Dass ich nicht mehr aus meiner Zeit gemacht habe? Was heisst denn mehr? Warum muss ich etwas aus meiner Zeit machen? Warum muss ich etwas aus mir machen? Woher kommt all der Druck? Ich fühle einen Knoten, den ich nicht lösen kann. Meine Erklärungsversuche ertasten lediglich seine Oberfläche. Ich konkludiere: Dem Bucheinband kann ich meinen Willen nicht aufdrücken; die falsche Faserrichtung unterbricht meine Immersion im Prozess. Durch meine Begegnung mit der Materialität des Materials beginne ich mich dafür als bewusst handelndes Subjekt wahrzunehmen, verantwortlich für meine Geworfenheit, und ich verfalle in ein kurzweiliges, existentielles Zweifeln.

Doch ganz aufgeben kann ich nicht. Nachdem ich mich beruhigt habe, betrachte ich deshalb den Schaden etwas genauer. Ich überlege mir, wie ich es beim nächsten Mal anders machen muss. Vom Bewusstwerden der Geworfenheit richtet sich der Blick nach vorne, ein Prozess des Entwerfens der Zukunft. Ich projiziere Handlungsmöglichkeiten und plane die nächsten Schritte. Nicht weil mir sonderlich viel am Buch oder dessen Nutzen liegen würde – ich bin begeisterter Anhänger des Apple-Ökosystems –, sondern es geht um die Verwirklichung einer tieferliegenden existentiellen Möglichkeit: die Person zu sein, die ich mir vorstelle zu sein. Jemand, der seine Ziele erreicht. Jemand, der seine Zeit nicht verschwendet. Der Unterbruch konfrontiert mich kurz mit meiner Selbstwahrnehmung, doch erneut in der Arbeit versunken hinterfrage ich sie nicht mehr, sondern sie treibt, schon fast auf Autopilot, mein Handeln. Den Knoten fühle ich nicht mehr. Die erlebte Identität, so Heidegger, entsteht durch die vergangene Realisierung von Entwürfen, die wiederum auf vorherigen Entwürfen beruhen. Und auch mein jetziges Handeln bestimmt mein Selbstbild in der Zukunft. Weiterzumachen ist also mein natürliches Verhaltensmuster, denn das Buch trotz des Rückschlags wegzulegen, wäre synonym mit einer kleinen Identitätskrise, die mich mehr Energie kosten würde, als weiterzumachen. (Sowie das ständige Umschreiben dieses Essays, um ihm eine Form zu geben, mit der ich zufrieden bin, anstatt ihn in unzureichender Form abzugeben). Die eigentliche Natur unseres Daseins ist deshalb nicht die Wirklichkeit, sondern die Möglichkeit. Oder in modernerem Jargon: Unsere Identität ist ein performativer Akt. Wo wiederum unser Selbstbild beginnt, welches das Handeln bestimmt, sei dahingestellt. So wie die profundere Frage, wie frei unser Wille dadurch noch bleibt.

Erst beim Schreiben und dem ständigen Umformulieren dieses Essays kommen mir diese Gedanken. Und erst jetzt merke ich, wie schnell Introspektion erneut vom Tatendrang erstickt wird. Wie stark mein Selbstbild und das handelnde Ich voneinander abhängig sind und sich deshalb gegenseitig bestimmen. Und auch wie voreingenommen meine Reflexionen durch mein Selbstbild sind. Durch mein Interesse an schwer durchdringbaren Werken und der anschliessenden Genugtuung, sie zu entziffern, fiel meine Wahl auf Heidegger als analytische Linse. Indem ich meine Erfahrungen mit Begriffen wie Dasein, Geworfenheit oder Entwerfen einordne, eröffnen sich mir zwar neue Perspektiven, unweigerlich übernehme ich jedoch auch Heideggers weiterreichenden Verweisungszusammenhang, denn meine Deutungen sind jetzt von seinen geprägt.

Doch obwohl das singuläre Zusammenspiel von meinem Dasein mit dem Buchbinden im Fokus stand, kann das Erlebnis exemplarisch für eine Vielzahl an Erfahrungen stehen. Denn das Aufeinandertreffen der Materialität, hier die Faserrichtung, mit einer handelnden Person kann Risse in deren erlebten Welt öffnen. Für jemand anderes mag sich die gleiche Aufgabe grundlegend unterscheiden. Und andere Aktivitäten, sei es Kochen, Töpfern, Musizieren, Schneidern oder Ölmalerei, sowie die damit verbundenen Materialien, gewähren ihre eigenen Möglichkeiten der Selbstreflexion. Diese offenbaren sich nur durch ihre Aktualisierung, weshalb es mir unmöglich ist, sie hier zu beschreiben. Somit bleibt der Essay zwar ein Produkt meiner Arbeit mit einem bestimmten Material, und seine Ansprüche an eine Wahrheit sind beschränkt auf genau diese Perspektive. Indem jedoch andere Arbeiten mit einer ähnlichen Trial-and-Error-Logik zur Reflexion anregen können, ergibt sich daraus ein bescheidener Ansatz einer Methode, wie, in Adornos Worten, „an einem ausgewählten oder getroffenen partiellen Zug die Totalität auf[ge] leuchtet“ werden kann.

Beim zweiten Versuch, einige Tage später, gelingt mir der Einband, und mit der richtigen Faserrichtung verhält sich der Karton, wie ich will – er ist leicht nach innen gedehnt und umarmt den Buchblock. Die Spuren des ersten Vorsatzes sind zwar noch schwach ersichtlich, jedoch stören sie mich nicht weiter. Sie sind Zeugen des Lernprozesses. Säuberlich und ein wenig stolz klebe ich auf die hinterste Seite des fertigen Buches ein gedrucktes Etikett. Melchior’s 5th Edition.